Kritik der Blues Harp
Vom Ländler zum Blues - Cross Harp versus 1. Position

Sonderstimmungen als Optimierungen für verschiedene Zwecke

Kritk der 2. Position im Richter-System

1. Der Grundton in 2o

2. Die große Terz in 3o

3. Die kleine Sekunde als Naturton in 3-

4. Quarte und Quinte in 4- und 4o

5. Die große Sexte in 5-

6. Die kleine Septime in 5o

7. Die Oktave in 6-

8. Die Besetzung von 6-

9. Der Blasrichtungswechsel ab Kanal 7

Fazit

Vom Ländler zum Blues - Cross Harp versus 1. Position→ Seitenanfang
Als Josef Richter aus Böhmen um 1825 eine Tonanordnung für die Mundharmonika entwarf, hätte er sich nicht träumen lassen, dass diese später als Blues Harp weltweite Bekanntheit erlangen würde. Richter hatte naturgemäß die volkstümliche Musik seiner Heimat im Sinn, als er sein Konzept entwickelte, und von Blues womöglich noch nie etwas gehört. Aber es war seine Tonanordnung, die als "Richterstimmung" bereits zwei Jahre später von Johan Langhammer aus Kraslice in erheblicher Stückzahl industriell gefertigt wurde und mit den Auswanderern in die USA gelangte.

In der Blues-Küche angekommen, wurde das Instrument kurzerhand nicht mehr in der ersten Position gespielt, wie Richter es für die Volksmusik seiner Heimat vorgesehen hatte, sondern in der zweiten, der Cross Harp-Position, die für Blues geeigneter war ( → Blues in der 2. Position). Mit dem Positionswechsel verlor man freilich auch den Vorzug, auf den Richters Konzept vollständig abhob: die Verfügbarkeit von Tonika, Subdominante und als Dominantseptakkord ausgeführter Dominante.

Der Cross Harper verfügte nur noch über Tonika, Subdominante und einem Mollakkord auf der fünften Stufe; büßte also ausgerechnet die Dominantfunktion ein. Auf der anderen Seite konnte man aber in der zweiten Position die Dur-Terz stufenlos bis zur Moll-Terz herunterziehen sowie die Quinte zur blue note vermindern - und somit einen bluesigen Ausdruck erzielen, der stilbildend war. Die Geschichte des Blues und der Cross Harp-Spielweise zeigt, dass für diesen Vorzug die Aufgabe der klassischen Kadenzakkorde in Kauf genommen wurde. Allerdings nahmen die Cross Harper durch die umfunktionierte Richterstimmung auch das Fehlen der Mollterz in der nächsten Oktave in Kauf, was das Spielen zumindest bis zur Entdeckung der Overblow-Technik einschränkte.

Erst seit Entdeckung der Overblow-Technik wissen wir, dass auch in der ersten Position die Blues-Skala und sogar chromatisch gespielt werden kann. Allerdings bleibt zu bezweifeln, dass bei den hohen spieltechnischen Anforderungen der ersten Position sich diese auch im Blues hätte durchsetzen können (→ Blues in der 1. Position).

Sonderstimmungen als Optimierungen für verschiedene Zwecke→ Seitenanfang
Zwar passt die Cross Harp-Spielweise das Richter-System wenigstens in der unteren Oktave für den Blues an, aber wir werden unten noch im Einzelnen sehen, das sie erhebliche Nachteile der Tonanordnung nicht ausgleichen kann. Aus dem Optimierungspotential der Blues Harp resultieren einige der zahlreichen alternativen Tonanordnungen, die als Sonderstimmungen bekannt sind.

Andere Musikstile und andere Skalen liefern weitere Gründe für spezifische Änderungen der Tonanordnung; bestimmte Sonderstimmungen wie bspw. Akkord-, Spiral- und Solostimmung sind für bestimmte Zwecke wie Begleitung und Melodiespiel fortentwickelt.

Den radikalsten Bruch mit der Richterstimmung und all ihren Modifikationen begehen die Tonanordnungen, die sogar die allgemeine Bezeichnung des Instruments als diatonische Mundharmonika fraglich erschein lassen, indem sie vollständig auf chromatisches Spiel setzen. So sind das Diminished und das Augmented Tuning für die Verwendung einer Mundharmonika in allen Tonarten vorgesehen.
Kritk der 2. Position im Richter-System→ Seitenanfang

1. Der tiefste Grundton der Blues-Skala liegt für die Cross Harp im zweiten Kanal und ist dort als Ziehton ausgeführt, was ideale Tonformung erlaubt. Zudem ermöglicht der anderthalb Töne tieferliegende Blaston in derselben Kanzelle1 ein wunderbar bluesiges Herunterziehen der Prime über die große zur kleinen Septime (fortan abgekürzt als: 1, 7, b7).
 Kanal 12345 678910
 Blastöne 4614614614
 Ziehtöne 5135b7235b72
 ½-Tonbend  7
 Ganztonbend  b7
2. Die große Terz in Kanal 3o (lies: 3 ziehen) liegt ebenfalls ideal:

•  Als Ziehton ist der Ton optimal formbar.

•  Die 3 in 3o ergänzt 2o zur Tonika.

•  Die 3 kann very bluesy zur b3 und 2 heruntergezogen werden. Tatsächlich sogar bis zur b2; allerdings -

wird dieser Anderthalbton-Bend zur b2 ernöglicht durch die Wiederholung der Prime in 3- (lies: 3 blasen). Diese Doppelung verschenkt die Möglichkeit, einen weiteren Naturton auf der Harp zu platzieren, ohne dass der Cross Harper einen Vorteil daraus ziehen würde: Die Quinte der Subdominante ist entbehrlich und die drei chromatischen Bendings b3 - 2 - b2 sind schwierig sauber und schnell hintereinander zu intonieren.

3. Setzen wir also die b2 als Naturton in 3-, gewinnen wir

•   einen chromatischen Ton, der im Spielfluss wesentlich leichter fällt als in einem chromatischen Bending-Lauf
 Kanal 12345 678910
 Blastöne 46b24614614
 Ziehtöne 5135b7235b72
 ½-Tonbend  b3
 Ganztonbend  2

4. Quarte und Quinte in Kanal 4- und 4o liegen ebenfalls günstig:

•   Die 4 in der Mitte der Blues-Skala und auf der Hälfte der Oktave bietet als Blaston eine gute Möglichkeit zur Regulierung
  des Atemhaushaltes.

•   Die 5 in 4o ist als Ziehton optimal formbar und

•   erlaubt als Gegenton der 4 das für die Blues Harp typische glissandierende Intonieren der blue note.
 Kanal 12345 678910
 Blastöne 46b24614614
 Ziehtöne 5135b7235b72
 ½-Tonbend  b3 b5
 Ganztonbend  2
5. Die große Sexte in 5- bringt zwar einen wichtigen Ton der dorischen Blues-Skala als Naturton, vergibt aber zugleich die Möglichkeit, die b6 als Naturton analog zur b2 in 3- zur Verfügung zu stellen. Wir gewinnen mit der

•  b6 in 5- einen gut spielbaren chromatischen Ton für das Melodiespiel sowie

•  eine schön bluesig intonierbare Sexte als Ziehbending in derselben Kanzelle

und verlieren

—  die Durterz der Subdominante für das Akkordspiel

Je nach Verwendungszweck können wir uns hier also für einen Kompromiss zugunsten des Melodie- oder des Akkordspiels entscheiden (vgl. dazu die → Variante für Akkordbegleitungen). Ich verfolge hier weiter den Hauptzweck des Melodiespiels, weil ein Kompromiss zugunsten des Akkordspiels letztlich mit einer anderen Tonanordnung befriedigender gelöst werden kann (→ Spiralstimmung).
 Kanal 12345 678910
 Blastöne 46b24b614614
 Ziehtöne 5135b7235b72
 ½-Tonbend  b3 b5
 Ganztonbend  2
6. Die kleine Septime in 5o erscheint schon aus der Logik der bisherigen Tonanordnung und deren Vorzügen ungünstig: Zwar haben wir einen wichtigen Melodieton als gut formbaren Ziehton, aber wir vergeben die b7 als schönes Ziehbending und zugleich die Durterz der Dominante. Der fehlende Drawbend der b7 bringt auch einen Nachteil im klanglichen Gesamteindruck, weil in diesem Teil der Blues-Skala die Bendings unterrepräsentiert sind. Deshalb bietet es sich an, die vorgefundene Anordnung der großen Terz in 3o auf die Septime in 5o zu übertragen und alle entsprechenden Vorzüge zu übernehmen:

•  Die 7 in 5o kann bluesy zur b7 und 6 heruntergezogen werden. Mit Blick auf die Kanzelle 3 ergibt dies einen stimmigeren
  Gesamt-Klangeindruck, da die Bendings gleichmäßiger auf die Töne der Blues-Skalen verteilt sind.

•  Die 7 liegt als Naturton gut spiel- und formbar vor und muss nicht als Overblow2 erzeugt werden.

•  Die 7 in 5o ergänzt 4o zur Dominante.

 Kanal 12345 678910
 Blastöne 46b24b614614
 Ziehtöne 51357235b72
 ½-Tonbend  b3 b5  b7
 Ganztonbend  2 6
Alternativ könnten wir natürlich anstelle der 7 auch den Grundton in 5o setzen. Es ergäbe sich eine bestechend überschaubare Tonanordnung, die lediglich 3 Kanzellen für alle zwölf Töne benötigte:
 Kanal 12345 678910
 Blastöne 46b24b614614
 Ziehtöne 51358235b72
 ½-Tonbend  b3 b5  7
 Ganztonbend  2 b7
 1½-Tonbend  6
Wir hätten damit ein dem Augmented Tuning verwandtes Konzept entworfen, das allerdings spieltechnisch geringere Ansprüche stellt, sofern man in der Tonart bleibt. Ich möchte hier jedoch die große Septime in 5o weiter verfolgen, weil ich meine, dass das resultierende Konzept hinsichtlich spieltechnischem Schwierigkeitsgrad und Kompromiss zwischen Akkord- und Melodiepotential den meisten Spielern eher entgegenkommt.

7. Die Oktave in 6- als Blaston auszuführen, birgt den Nachteil der geringeren Gestaltbarkeit dieses wichtigen Tones, leitet aber vor allem den Bruch mit dem bisherigen Spielmuster ein. Wir wissen, dass Josef Richters prioritäres Ziel der Tonika auf allen Blaskanälen ihn hierzu zwang, was aber für den Cross Harper keinen Vorteil bedeutet. Im Gegenteil ist die Quinte der Subdominante entbehrlich und rechtfertigt nicht die Ausführung der Oktave als Blaston geschweige denn einen Wechsel des Spielmusters.

Ein oktavbezogen gleichbleibendes Spielmuster ist insbesondere für den improvisierenden Musiker ideal und die Möglichkeit hierzu sollte nicht ohne guten Grund aufgegeben werden. Ich plädiere also für die Oktave in 6o.

8. Damit wird 6- frei, und wenn wir zur Prime in 2o und dem zugehörigen Blaston schauen, könnten wir analog auch in 6- die große Sexte setzen. Allerdings haben wir die Sexte bereits in 5o und würden damit einen weiteren möglichen Naturton verschenken. Zwar ermöglichte uns die 6 in 6- das Herunterziehen der 8 zur b7, doch auch die b7 haben wir bereits als Halbton-Bend in 5o. Das Argmunent dafür, hier dennoch bei der Sexte zu bleiben, wäre das sehr schöne und typische Glissando von der 8 zur b7 bzw. umgekehrt.
 Kanal 12345 678910
 Blastöne 46b24b664614
 Ziehtöne 513578 35b72
 ½-Tonbend  b3 b5  b7 7
 Ganztonbend  2 6 b7
Alternativ könnten wir anstelle der 6 in 6- die b7 setzen, um den Naturton für einen wichtigen Skalenton zu nutzen. Die kleine Septime stünde uns so sowohl als Halbton-Bend als auch als Naturton zur Verfügung, was für schnelles Spiel vorteilhaft wäre. Beim
Optimized Blues Tuning habe ich mich für diese Variante entschieden, aber ich halte die Entscheidung für eine Geschmackssache.

9. Der Blasrichtungswechsel ab Kanal 7 - hat bestimmt schon manchem Lerner Kopfzerbrechen bereitet. "Warum zum Teufel sind auf einmal die Blastöne höher als die Ziehtöne? Und keine Ziehbendings mehr möglich?"

Sobald wir an Josef Richter denken, wird die Sache allerdings klar: Richter wollte mit der großen Sexte in 6o die 5o zur Subdominante ergänzen, andererseits aber in 7- seine Tonikareihe fortsetzen. Ihm fehlte also zwischen 6o und 7- ein Tonleiterton. Als Lösung setzte er die fehlende große Septime in 7o - und drehte damit die Blas-Zieh-Reihenfolge um.

Am Beispiel einer Richterstimmung in D-Dur:
 Intervalle der Tonika 13513 51351
 Blastöne df#adf#adf#ad
 Kanal 12345 678910
 Ziehtöne eac#egbc#egb
 Intervalle der Dominante 5135b7 93 5b7 5
 Intervalle der Subdominante 139 b51313 b51313
Nun kann man sich auch aus Sicht des Musikers, der ausschließlich in der 1. Position und mit Naturtönen spielen will, fragen, ob Josef Richters Entscheidung wirklich glücklich war, und ob nicht bspw. die
→ Spiralstimmung die bauartbedingten Möglichkeiten der Mundharmonika wesentlich besser nutzt, aber für den Cross Harper bringt der Blasrichtungswechsel erst recht keine Vor-, wohl aber erhebliche Nachteile:

—  Die essentiell wichtigen blue notes b3, b5 und b3 in der obersten Oktave sind nur durch die anspruchsvollen Techniken overblow, overdraw und blowbend spielbar, was häufig zu Lasten musikalischer Tongestaltung, Intonation und leichtem Spielfluss geht.

—  Spielabläufe aus der unteren Oktave sind nicht in die obere und oberste Oktave übertragbar.

—  Der Blasrichtungswechsel erfordert ein Umdenken im oberen Drittel der Harp, das für Lerner gewöhnungsbedürftig und für den Improvisierenden erschwerend ist.

Fazit

Wir haben nun mit nur drei Änderungen der unteren Cross Harp-Oktave eine Tonanordnung gewonnen, die bestmögliche Tongestaltung, durchgehend bluesigen Klang, gut beherrschbare Bending-Techniken, müheloses chromatisches Spiel und einsichtige Tonabfolge vereint. Durch das optimierte chromatische Spielmuster von Prime bis Oktave, das sich in allen Oktaven der Mundharmonika wiederholt, erhält das Optimized Blues Tuning eine schlagende innere Logik und ist ideal für das Melodiespiel im Blues, Jazz, Rock und in der Pop-Musik.

Spielmuster der Blues Scale auf der Optimized:
 Kanal 12345 678910
 Blastöne b6b7b24b6b7b24b6b7
 Ziehtöne 713571 3571
 ½-Tonbend  b7 7 b3 b5  b7 7 b3 b5 b7 7
 Ganztonbend  2 6 2 6

Spielmuster der Blues Scale auf der Richterstimmung:
 Kanal 12345 678910
 Blastöne 4614614614
 Ziehtöne 5135b7235b72
 ½-Tonbend  b5 7 b3 b5b2
 Overblow b3
 Overdraw b5

Für weitere Vergleiche siehe → Optimized Blues Tuning


1 Ein Ziehton kann nur bis zu einem Halbtonschritt an den tiefer liegenden Blaston derselben Kanzelle herangezogen werden. Liegt ein c in 4- und ein d in 4o kann das d maximal zum db heruntergezogen werden. ↑

2 Was möglich wäre, wenn wir es bei der großen Sexte in 5- beließen. ↑